19. Februar 2023

BelAir 91 – Gipsy oder was?

Autor: Udo Wohlgemuth

Manchmal bekomme ich komische Mails, daran habe ich mich längst gewöhnt.  Ob ich seine Bitte veröffentlichen darf, hab ich den Schreiber – für viele von euch ist er unter seinem Forennamen ein guter Bekannter – gefragt. Natürlich hat er sofort “ja” gesagt und hier ist seine Anfrage:

“Hallo Udo,
schade dass wir in Nordhausen nicht mehr Zeit zum Quatschen hatten. Es war eine tolle Veranstaltung mit reichlich Erkenntnissen. Im direkten Vergleich so viel verschiedene Lautsprecher zu hören, war einfach wieder genial. Mir geistert seit dem emotional aufwühlenden, akustischen Kontakt mit der BelAir 92 die „BelAir 91 aktiv“ im Kopf rum. Als ich die 92-er hörte, dachte ich nur „was ein Knaller“. Mein Nebensteher meinte nur trocken „… die isses … die bau ich …“.

Allerdings ist mir die 92-er für 15qm einfach zu groß. Außerdem möchte ich „aktiv“ werden. Brauche ein paar neue Erfahrungen. Und es sollen meine persönlich letzten LS werden. Ich habe genug probiert. Ich hoffe, du hast die 91-er in deiner ToDo-Liste?! Ich habe einen ausgefallenen Bauplan für 30 Liter im Kopf.

Freue mich wieder von Dir zu hören.

Mit Grüßen von Achim”

Hatte er etwa meine Einleitung zur Big 5 nicht gelesen? Darin habe ich doch wohl recht eindeutig kund getan, dass es eine BelAir 91 nicht geben wird:

“Die klassische Unterteilung in Bassmitteltöner und Bass, die sonst überall zwischen 7 und 8 Zoll angesiedelt ist, wird durch den MW 19 P-8 gebrochen, der in der Doppel 9 einen sehr guten Job auch in den Mitten macht. Auf der anderen Seite ist er mit dem gebräuchlichen Volumen einer Kompaktbox um 20 Liter nicht zufrieden. Er verlangt wie ein richtiger Bass nach 30 bis 35 Liter, die wiederum besser in einer Standbox aufgehoben sind. Blöd dafür, dass er sich nicht in eine schmale Front zwängen lässt und jeder Hochtöner in Ohrhöhe sitzen mag. Das macht die Kiste bei einem Meter Höhe weniger als 20 cm tief, was mit optischen Eleganz nun wirklich nicht in Einklang zu bringen ist. Somit fällt schon mal die BelAir 91 aus und die gewohnte Reihung innerhalb der Serien ist mit dem 19er Satori nicht möglich.”

Damit war alles zu seinem Wunsch gesagt und ich schrieb ihm die passende Antwort:

“Hallo Achim,
geplant war die BelAir 91 eigentlich nicht. Aber wenn du schon einen ausgefallenen Bauplan hast, kann ich mich wohl nicht wehren. Dass es der letzte Bau wird, glaub ich aber nicht so recht.

Gruß Udo”

So begab ich mich also an die Planung des ungeplanten Bauvorschlags, für den ich dank meiner Freecad-Dateien wenigsten schnell einen Bauplan erstellen konnte. Wie schon zuvor geschrieben, sind 30 Liter für eine Kompaktbox eher zu viel, für eine Standbox mit 20 cm Innenbreite und Hochtöner in Ohrhöhe eher zu wenig. Doch bei aufgesetzter Front sind auch 17 cm innen noch guten Gewissens möglich und der Kasten wird nicht wegen fehlender Tiefe ständig vom kleinsten Durchzug beim Zimmerlüften umgeweht werden. Mit 21 x 23 x 100 cm außen hat sie sogar ein recht gefälliges Format.

Damit jeder Nachbauer seine Box individuell gestalten kann, gibt es hier die Freecad-Datei zum Herunterladen.

Nun hätte ich mein Holz für die BelAir 91 nach Plan maßgenau zuschneiden können, doch muss man wirklich knappen Rohstoff für einfache Testaufbauten vergeuden? Im Keller gab es noch zwei Kisten mit passender Breite, etwas zu viel Volumen, falscher Front und meine Kreissäge. Flugs sägte ich die Schallwand soweit weg, dass 30 Liter Innenraum entstanden. Drei schmale Reststücke schwarzen MDF’s klebte ich mir als neue Front zusammen, nicht vorzeigbar, aber Ressourcen schonend. Mit Freecad, einem Bilderdrucker und Photoscape klebte ich die Bretter virtuell zusammen, wobei ich weder Leim verbrauchte, noch die Hände schmutzig machte.

BelAir91Aufbau

Fertig sahen die Lautsprecher dank Gimp dann so aus:

Mit den weniger geschönten Testboxen begab ich mich geradewegs in das Messlabor, wo die Weichenentwicklung anstand. Die Chassis waren per Biwiring-Terminal mit der Außenwelt verbunden, so konnte ich durch mehrmaliges Messen und Ändern die geeigneten Bauteile für eine funktionierende Filterung finden. Das war kein Hexenwerk. Ich kenne die Chassis lang genug und weiß, was sie brauchen, um sich wohlzufühlen. Im Wesentlichen waren das Filter mit 12 dB Flankensteilheit, ein Saugkreis für den MW 19 P-8 und ein Pegelregler für den AT 60 NC-4. Über der Bassspule liegt ein kleiner Kondensator mit Widerstand, der eine Resonanz bei etwa 5 kHz dämpft. Das Reflexrohr hatte ich auf 10 cm gekürzt, bei wandnaher Aufstellung darf es seine volle Länge behalten.

Einfach war es, ein Furnier auf die virtuelle Box zu kleben. In Freecad ist für solche Manipulationen unter “Ansicht” die “Texturabbildung” hinterlegt. Hier habe ich mit Hilfe eines Zebrano.jpg der BelAir 91 einen schönen Streifenanzug übergezogen.


Bei der abschließenden Hörprobe durften sich die BelAir 91 mit der bis auf die Größe ähnlichen BelAir 71 messen. Dass sie klanglich nah bei einander lagen, wird nun niemanden überraschen. Mehr Volumen und Membranfläche sprachen für die 91, die kompakte Form für die 71, die bei artgerechter Platzierung nah an der Wand oder im Regal bassmäßig gut mithielt. Steht die 91 jedoch mit ungekürztem HP 70 nicht frei im Raum, gewinnt sie unterhalb von 40 Hz, wo sie weiterhin sehr differenziert und niemals dicklich musiziert.

War es nötig, sie zu erfinden? Nun, Achim wollte sie als letzte Box für den hoffentlich noch sehr langen Rest seines Lebens. Und das beantwortet die Frage durch wohl in ausreichendem Maße.

Oh, Achim! Aktiv hatte er doch geschrieben. Also runter vom bequemen Sofa, Weichen von den Terminals abgeklemmt und das FA 122 ran. Statt es in einen geschlossenen Kasten innerhalb der Box zu stecken, bastle ich mir lieber eine externe Behausung für das Modul. Sie kann auf die Rückwand geschraubt werden und ist schlimmstenfalls beim Staubsaugen zu sehen.

Für die Aktivierung brauche ich zwei Rechner, auf dem einem läuft Clio Pocket, auf dem anderen der Hypex Filter Designer. Sie stehen im Laden, also setzte ich meine aktive Abstimmung dort fort. Die Testbox wurde in gewohnter Höhe auf den angestammten Messplatz gestellt und schon konnten die Frequenzgänge der beiden Chassis per DSP-Filter in die gewünschte Form gebracht werden.

Aktiv nahm ich ein paar kleine Korrekturen zusätzlich vor, die passiv nur durch zwei Hände voller Bauteile zu realisieren sind. Dennoch ergab sich keine wirklich andere Abstimmung zwischen beiden Versionen. Die Biquads kann ich stufenlos auf den Punkt genau einstellen, bei Bauteilen steht mir nur die E 12-Reihe mit eingebauten Toleranzen zur Verfügung. Natürlich verführt das oft zu Übertreibungen bei der Plättung von Unstetigkeiten, die dem fertigen Lautsprecher am Ende jeden eigenen Charakter rauben.  Den Peak bei 350 Hz hätte ich leicht wegzaubern können, ein kurzer Hörvergleich beider Varianten verbot es mir. Nebenher bemerkt liegt hier ein großer Vorteil bei aktiv. Version 1 auf Preset 1 und 2 auf 2 lässt sich mittels Fernbedienung vom Hörplatz ohne Hörpause durch Bauteiltausch per Knopfdruck umschalten. So weiß das Ohr noch recht genau, was es eine Sekunde zuvor wahrgenommen hat.

Auch für die aktiven 91er war der Vergleich mit den 71ern sinnvoller als die übliche Beschreibung meiner Klangeindrücke beim Abspielen verschiedener Teststücke. Dass die Lautsprecher mein Ohr erfreuten, darf jeder Leser voraussetzen. Andernfalls hätte ich heute nicht über sie berichtet. Erwartungsgemäß brachte 91 gegen 71 keine Umkehr des vorher Geschriebenen. Auf klanglich hohem Niveau zeigte die größere Membran etwas mehr Gelassenheit und Ruhe als die kleinere, war dabei tonal aber nicht erkennbar anders. Dafür war sie gegenüber der passiven Version durchhörbarer mit noch mehr Feinzeichnung und Präzision in der Darstellung von Klavieranschlägen. “Horowitz in Moskau” ist dafür mein bewährtes Testmittel. Wenn sein differenzierter Anschlag, das Ausklingen der Töne und der Hall von den Wänden so perfekt stimmen, fühlt man sich mit geschlossenen Augen wie ein Besucher, der 1986 live dabei sein durfte.

Genug der Schwärmerei, eine Erklärung bin ich noch für den Alias-Namen schuldig. Achim hat für das Forum den Namen “Gipsohr” eingetragen. Was lag da näher, als dem unverhofft hereinvagabundierten Bausatz den Zusatz “Gipsy” anzuhängen? Das passt in jeder Beziehung.

Horowitz spielt noch immer – welch ein Genuss!

Udo Wohlgemuth

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Und bei dem Gehäusevolumen kann es auch verlockend sein, das Fach für den Hypex hinten schön einzupassen…

Ein schönes Konzept! Ich bin gespant auf die Umsetzung durch Achim „Gipsohr“.
Ich selbst bin ein großer Freund des MW19, der im Doppelpack aus meinen Wohnzimmerboxen tönt.

Bei der „91“ und den angesprochenen schwierigen Proportionen in einer Standbox kann ich nur wieder empfehlen, die tatsächlichen Ohrhöhen verbreiteter Sitzmöbel – vor allem der eigenen – einmal nachzumessen. Bei meinem Sofa sind das 70cm, nach einer halben Flasche Rotwein sogar nur noch 64,5. Die berühmten 90cm hat man eher auf dem Küchenstuhl oder einem Büro-Dreher. Also, vor einer niedrigen Relaxcouch macht die „91“ in ca. 85cm Bauhöhe, bei mehr Tiefe, möglicherweise eine noch bessere Figur.

Beste Grüße,
Martin F

Hallo Martin, ich habe je schon ein paar aufwändige Gehäuse gebaut. Z.B. SB12 ACL in rund. Diesmal wird‘s definitiv nicht so aufwändig. Bin gerade noch an einem anderen Bauprojekt und dann müssen die BelAirs zügig ans Ohr.

Last edited 1 Jahr her by Gipsohr

Wow, die Gypsy Kings sind wieder da – Danke Achim für diesen besonderen Vorstoß!

Uns mal wieder ein Hammer Projekt, dass auch manche Konventionen auflöst.

Beste Grüße & viel Spaß beim Bau, Johannes

Hallo Jo, das war mein Ziel. Udo hat seinen Widerstand recht zügig aufgegeben.😉

Tatsächlich ein sehr interessanter Lautsprecher die “Gipsy”, da hat mein Namensvetter wirklich einen schönen Stein angestoßen.

Die kompakten Abmessungen finde ich Klasse. Die sorgen wohl für hohe Akzeptanz bei der Frau und fügen sich sicher auch in kleinere Räume gut ein.

Da hab ich ja gleich mal ein Lautsprecherbausatz auf den ich sparen kann, zwischenzeitlich baue ich dann mal die die U_Do73 und lausche selbiger.

Gruß Achim

Hurra, da ist die BelAir 91 endlich!
Mit der Idee “bedrängte” ich Udo auch schon!
Gratulation, Gipsohr, dass Du Udo letztendlich überzeugen konntest! Ich rechne in den nächsten Wochen mal in aller Ruhe aus, wie ich das Gehäuse zur Kompaktbox für mein Wohnzimmermobiliar wandle. Die Idee habe ich schon lange, da ich die Membranfläche maximieren möchte 🙂
Die Doppel 9 in Nordhausen hat diese Idee dann weiter bestärkt.
Weitere Projekte sind dann auch greifbar – aus Duetta Top wird Duetta, aus den verbleibenden Resten meiner großen Eigenkonstruktion (Nordhausen 2018, links) noch ein Pärchen Symphony 25.
Ein schönes Wochenende noch,
Gordon

Hallo Udo, erstmal ein dickes Danke für die Individualentwicklung.
Ich freue mich schon auf den Bau, der für mein Räumchen, „fetten“ 19-er Membran. 😀
Wunschgemäß 40Hz, allerdings mit deutlich höherer Empfindlichkeit als ich dachte! Klasse.
Grüße Achim

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